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Selbstportrait
Egon Schiele

Portrait,
Amedeo Modigliani

Porträt vs. Porträtkarikatur – Die Kunst der Überzeichnung

Eine oft übersehene Tatsache ist, dass das Beherrschen der klassischen Porträtzeichnung die Grundlage für das Zeichnen einer gelungenen Porträtkarikatur bildet. Eine Karikatur ist eine Stilisierung oder Weiterentwicklung eines Porträts. Sobald der komische Effekt nicht mehr im Vordergrund steht, offenbaren sich viele Parallelen zu den Stilrichtungen des Expressionismus und Impressionismus – deutlich erkennbar in den Werken von Egon Schiele und Modigliani.

Das menschliche Gesicht stellt eine der größten Herausforderungen für bildende Künstler dar, da unsere Wahrnehmung besonders empfindlich auf selbst kleinste Formabweichungen reagiert. Bereits minimale Veränderungen in den Proportionen können ein Porträt erheblich verfälschen. Während Ungenauigkeiten in einer Landschaft, einem Stillleben oder selbst in Tierporträts oft unbemerkt bleiben, fällt eine Fehlproportion in einem Gesicht sofort auf. Selbst wenn der Betrachter nicht genau benennen kann, woran es liegt, spürt er intuitiv, dass etwas nicht stimmt – dass die abgebildete Person nicht ganz wiederzuerkennen ist.

Warum bleibt eine Karikatur trotz Verzerrung erkennbar?

Auf den ersten Blick mag es widersprüchlich erscheinen, dass eine Porträtkarikatur, die bewusst überzeichnet und verzerrt wird, weiterhin eine klare Ähnlichkeit zur Person bewahrt. Schließlich ist eine Karikatur alles andere als eine exakte oder realitätsgetreue Darstellung. Warum also beeinträchtigt diese scheinbare Ungenauigkeit nicht den Wiedererkennungswert?

Um das zu verstehen, muss man sich den Entstehungsprozess einer Porträtkarikatur genauer ansehen.

Der Prozess in Theorie

Designsphase
  1. Neue Anordnung der Relationen zwischen den Bestandteilen des ursprünglichen Gesichts, wobei die charakteristischen Merkmale hervorgehoben werden.
  2. Die Anatomie glaubwürdig rekonstruieren, sodass trotz Verzerrung eine natürliche Wirkung entsteht.

Das Ergebnis ist ein neues, überzeichnetes („exaggerated“) Gesicht, das – genau wie das ursprüngliche Gesicht – im dreidimensionalen Raum existiert.

Durchführungsphase
  1. Präzise Übertragung des überzeichneten Gesichts auf die zweidimensionale Zeichenfläche.

Schritte 1 und 2 sind spezial für eine Porträtkarikatur, wo  man die Wiedererkennungsmerkmale eines Gesichts hervorhebt. Schritt 3 hat im Gemeinsam mit einem klassischen Portrait.

Wenn die Karikatur das Original übertrifft

Eine wirklich gelungene Porträtkarikatur kann in gewisser Weise sogar einen höheren Wiedererkennungswert besitzen als das ursprüngliche Porträt. Der wohl erfolgreichste Porträtmaler aller Zeiten, John Singer Sargent, nutzte genau diese Technik, um ausdrucksstarke Porträts zu erschaffen. Seine Werke sind keine exakten Kopien der Modelle, sondern eine subtile Form der Porträtkarikatur.

Sargents Portrait (links) verglichen mit Fotografie des Abgebildeten
J.S.Sargent
Bild aus dem Buch  John Singer Sargent von Richard Ormond, 1970

Sargents Portrait (links) verglichen mit Fotografie des Abgebildeten
J.S.Sargent
Bild aus dem Buch  John Singer Sargent von Richard Ormond, 1970